Nach unserem „Urlaub“ in Copacabana nehmen wir den Bus nach La Paz, wo wir mit den Vorbereitungen für das kommende Abenteuer beginnen: Wir wollen in den nächsten Wochen die „Ruta de las Seis Miles Norte“ unter unsere Stollenreifen nehmen, eine Nord-Süd-Traverse der Chilenisch-Argentinischen Hoch-Puna. Dieses ambitionierte Projekt steht seit einigen Jahren auf unserer Löffel-Liste, jetzt ist es endlich so weit. Auf bikepacking.com wird diese Route mit dem Schwierigkeitsgrad 10 von 10 bewertet, und das hat durchaus seine Berechtigung: Knapp 800 Kilometer Einsamkeit, faszinierende Mondlandschaften, verlassene Minen, eingestellte Bahnlinien, schwere Pässe bis 5.000 Meter, orkanartige Winde und schlechte bis kaum fahrbare Sand- und Rüttelpassagen warten auf uns. Erschwerend kommt dazu, dass wir aufgrund der Abgelegenheit Vorräte für rund drei Wochen und manchmal Wasser für drei Tage schleppen müssen. Zugegeben, ein wenig Bammel haben wir schon. Aber es erwartet uns das ultimative Abenteuer in einer der entlegensten Regionen Südamerikas! Und wenn wir jetzt nicht die Gelegenheit beim Schopf packen, wird es vielleicht so schnell nichts mehr damit …
Klarerweise sollte man sich auf solch eine anspruchsvolle Tour sorgfältig vorbereiten. Deshalb verbringen wir die Zeit in La Paz mit dem Studieren von Landkarten und GPS-Tracks, wir erstellen EXCEL-Listen, lesen Berichte von anderen Seismiles-Radlern und kaufen erste Vorräte ein. Ein weiterer Bus bringt uns nach ein paar Tagen über Uyuni an die bolivianisch-chilenische Grenze und schließlich in das Städtchen Calama in Nord-Chile. Nachdem wir dort erneut die Supermärkte geplündert und unsere Räder gepackt haben, machen wir uns auf eine zweitägige, gut 100 Kilometer lange „Probetour“ nach San Pedro de Atacama, dem offiziellen Startpunkt der „Seis Miles Norte“. Trotz des Zusatzgewichtes von etwa 12 Kilo Essen und 11 Liter Wasser pro Person lassen sich unsere Räder überraschend gut fahren. OK, vielleicht liegt es einfach daran, dass die Strecke Calama-San Pedro fast ausschließlich auf Asphalt verläuft und die Steigungen recht sanft ausfallen? Egal, dem Selbstvertrauen tut es gut und in den kommenden Tagen werden wir genügend Gelegenheit haben, unser Setup auf Herz und Nieren zu testen.
Etappe 1, San Pedro de Atacama – Paso Socompa und wieder zurück
Die erste Etappe der „Seis Miles Norte“ führt uns von der trockenen, brütend heißen Atacama-Wüste langsam hinauf in die chilenische Puna. Die ersten Tagesetappen gestalten wir bewusst kurz, wir wollen es gemütlich angehen und uns unsere Kräfte für die härteren Abschnitte aufheben. Nach und nach klettern wir hoch in eine kaum besuchte, immer rauer werdende Region. Für etwa 20 Kilometer radeln wir auf Eisenbahn-Schienen und campen in einem verlassenen Eisenbahnwagon, bevor wir nach fünf Fahrtagen den knapp 3.900m hohen Socompa-Pass erklimmen, der die Grenze zu Argentinien bildet. Dort findet unser Vorankommen ein abruptes Ende: „Ihr könnt schon weiterfahren, aber dann nähen wir euch ein“, meint der mies gelaunte chilenische Grenzpolizist mit eiserner Mine. „Seit Beginn der Pandemie im März 2019 ist der Grenzübergang für Touristen geschlossen, er wird so schnell nicht mehr geöffnet werden. Pech gehabt!“, erklärt er uns gleichmütig. Na toll! Wir haben uns extra vorab bei unterschiedlichen Stellen nach dem Status des Grenzüberganges erkundigt und bekamen grünes Licht! Unsere Erklärungsversuche beeindrucken die Herrschaften wenig, wir werden eiskalt abgewiesen und zurückgeschickt. Ob wir genügend Wasser oder Vorräte für den mehrtägigen Rückzug dabei haben, ist ihnen ebenfalls ziemlich wurscht. Uns bleibt keine Alternative, widerwillig drehen wir unsere Räder um 180 Grad und stemmen uns gegen den heftigen Westwind, der sich natürlich auch gegen uns verschworen zu haben scheint.
Abends liegen wir im Zelt und loten unsere Möglichkeiten aus. Laut Karte könnten wir über den Paso Sico nach Tolar Grande gelangen, wo wir uns wieder in die Route einfädeln könnten. Unser „Plan B“ erweist sich aber tags darauf als nicht realisierbar, denn wir erfahren dass auch der Paso Sico derzeit geschlossen ist. Für unsere Persönlichkeit ist diese Situation sicher nicht schlecht, wir sollen uns scheinbar in Flexibilität üben 🙂 Wieder zurück in San Pedro de Atacama, machen wir uns an die Entwicklung eines „Plan C“ …
Etappe 2, San Pedro de Atacama – Paso Jama – Vega Socompa
Um den argentinischen Teil der „Seis Miles“ in Angriff nehmen zu können, gibt es für uns nur noch eine mögliche Anreiseroute: Paso de Jama – Tolar Grande – Salar de Arizaro. Den langen Anstieg zum Paso de Jama überwinden wir per Pick-Up, da wir diesen bereits vor 11 Jahren geradelt sind. Auf dem Weg nach Tolar Grande erwartet uns teils mieses Waschbrett und eine weitgehend monotone Landschaft. Nach einem Ruhetag queren wir den Salar de Arizaro, den größten Salzsee Argentiniens und beginnen, langsam an Höhe zu gewinnen. Der darauffolgende Tag wird anstrengend und lange. Ab dem frühen Nachmittag haben wir mit einem für die „Seis Miles“ typisch heftigen Südwestwind zu kämpfen. Da weit und breit kein Windgeschützter Lagerplatz zu finden ist, pushen wir weiter. Im letzten Tageslicht erreichen wir erschöpft die verlassene Estancia „Vega Socompa“, in dessen Kirche wir unser Zelt aufbauen. Von hier aus können wir die 13 Kilometer rauf zum Paso Socompa blicken, wo wir vor einer Woche zurückgewiesen wurden. Am liebsten würden wir jetzt hoch zum Grenzübergang radeln und den chilenischen Polizisten aus sicherer Distanz die Zunge zeigen, aber das lassen wir angesichts der fortgeschrittenen Stunde dann noch lieber. Wir sind zwar ziemlich fertig, aber irgendwie glücklich. Denn wir haben es geschafft, uns wieder in die Original-Route einzufädeln.
Etappe 3, Vega Socompa – Brea Farm
Noch etwas müde vom letzten Fahrtag starten wir mit jeweils 11 Liter Wasser im Gepäck zeitig zu unserer ersten Pass-Etappe auf argentinischer Seite. Es wird eine mühsame Kletterei, ab dem späten Vormittag wird unser Fortschritt wieder von starken Winden eingebremst. Die rot-braunen Vulkane und das golden leuchtende Puna-Gras entschädigen für die Strapazen. Tags darauf nehmen wir eine weglose Route hinunter zum Salar de Llulaillaco, an dessen Ende bereits die nächste Bergwertung auf uns wartet. Am späten Nachmittag wollen wir auf 4.200m unser Lager aufschlagen, was aufgrund des obligatorischen Sturmes unmöglich ist. So vertreiben wir uns die Zeit mit dem Bau einer Steinmauer, die uns vor den Elementen schützen soll. Wir sind stolz auf unser Bauwerk und freuen uns auf einen windgeschützten Nachmittag. Der Wind legt kurz darauf aber derart zu, sodass die Mauer bald ihren Zweck nicht mehr erfüllt. In unsere Schlafsäcke eingehüllt müssen wir bis 21 Uhr ausharren, bis wir im nachlassenden Sturm dann endlich das Zelt aufstellen können. Von oben bis unten mit Sand paniert können wir es uns schließlich halbwegs gemütlich machen. Wie gut, dass der nächste Tag bereits um die Mittagszeit bei der Mina La Casualidad endet. In der ehemaligen Kirche der 1979 aufgelassenen Schwefel-Mine schlagen wir unser Lager auf. Wir spazieren durch die bröckelnden Gebäude der Geisterstadt und bestaunen die alten, vor sich hin rostenden Anlagen. Abends stattet uns Gabriel einen Besuch ab. Er hat an einer Quelle Wasser für ein Minenarbeiter-Camp am nahen Salar getankt und unsere Räder gesehen. Nach einem herzlichen Gespräch verabschiedet er sich und meint, er würde morgen nochmal vorbeischauen. Mit einem Sack voller Leckerlis vom Camp steht er dann tatsächlich um 7 Uhr in der Früh vor uns, wir sind echt gerührt!
Wir verlassen die Mina Casualidad gut ausgerastet und queren den Salar de Rio Grande. Weiter geht es in ein weites sandiges Tal, wo ein grandioser, windgeschützter Lagerplatz unterhalb einer mächtigen Felskante auf uns wartet. Ab hier beginnt die Route härter zu werden. Anstrengende, tiefsandige und steile Schiebepassagen wechseln sich mit den üblichen starken Winden und dem ersten 5.000m-Pass ab, die Etappen sind lange und zehren an unseren neu gewonnenen Kräften. Mehr als 30 bis 40km schaffen wir kaum an einem Tag. Nach einem sagenhaften Downhill durch eine an den Südwesten der USA erinnernde Gegend erreichen wir schließlich die wunderschön gelegene Winter-Farm der Familie Brea. Dona Inez ist überrascht, als sie uns erblickt. Seit der Pandemie hat sie hier keinen einzigen Radfahrer mehr gesehen. Ihr Mann ist vor sieben Jahren verstorben, seither kümmert sie sich meist alleine um die entlegene kleine Landwirtschaft. Wir verbringen einen lustigen Nachmittag mit der 72-jährigen rüstigen Dame, teilen unsere spärlichen Vorräte mit ihr und erfahren viel über ihr entbehrungsreiches und einfaches Leben hier draußen. „Tranquilo“ – ruhig sei es, in der Stadt halte sie es nicht lange aus. Sie schimpft ein wenig über „die Jungen“. „Die wollen alle nur noch ins Büro, richtig arbeiten kann keiner mehr!“, entrüstet sie sich. Am Abend begleiten wir sie zum Schafe-Holen, denn die müssen über Nacht in die Pferch. „Sonst holt der Puma die Kleinen“, erzählt uns Dona Inez. Die Schafe verbringen den Tag in einem wunderschönen Tal hinterm Häuschen. Ein kleines, gurgelndes Bächlein fließt sanft mäandernd durch saftig grüne Wiesen, dahinter steigen rote Sandsteinfelsen senkrecht in den stahlblauen Himmel. Kein Wunder, warum Dona Inez lieber hier wohnt als in der grauen, hektischen Stadt …
Etappe 4, Brea Farm – Termas los Banos
Als wir am nächsten Vormittag von der Brea Farm aufbrechen, bläst uns ein eisig kalter Wind entgegen. Sofort kommen uns die Worte von Dona Inez wieder in den Sinn, die die meiste Zeit alleine in ihrem kleinen „Puesto“ in der Einsamkeit verbringt: „El viento is mi unico companero“ – „Der Wind ist mein einziger Begleiter“. Das hilft. Vor uns liegen 33 Kilometer übelster Rüttelpiste, wir queren den Salar de Antofalla. Nicht zu Unrecht hat diese Passage unter Radfahrern den Spitznamen „Boulevard of broken Culo“, was so viel wie „Prachtstraße des gebrochenen Hinterns“ bedeutet. Gröbste Salzschollen und tiefe Löchern bilden eine nahezu unfahrbare Oberfläche, über die wir uns viele lange und schmerzhafte Stunden quälen. Wie zwei Osterhasen hoppeln wir durch die spektakuläre Gegend. Wäre die Landschaft nicht so schön, würde man wohl verzweifeln. Am Ende des Salars tanken wir je 11 Liter Wasser und beginnen den letzten langen Anstieg der „Seis Miles Norte“, ein knapp 5.000 Meter hoher sandiger Pass steht am Programm. Ehrlich gesagt haben wir großen Respekt davor. Mittlerweile machen sich die 21 Fahrtage körperlich bemerkbar, wir sind ausgezehrt und schon etwas müde. Der „Umweg“ über den Paso de Jama und Tolar Grande fordert seinen Tribut. Nach einer Zeltnacht auf knapp 4.000 Meter starten wir früh zur letzten Königsetappe, es ist eisig kalt und windig. Glücklicherweise schiebt uns dieser von hinten an, die Sandpassagen sind großteils fahrbar. Schon zu Mittag haben wir die 1.000 Höhenmeter überwunden und „gleiten“ 16 sagenhafte Kilometer mit einer gigantischen Aussicht hinunter zur Laguna Purolla, wo wir im Schutz einer Steinmauer campen. Der heftige Wind schläft diesmal nicht ein und rüttelt die ganze Nacht heftig an unserem Zelt. Am nächsten Tag radeln wir über mächtige Lavafelder und durch einen Vulkankrater an den Rand der Puna, die Landschaft beginnt sich schlagartig zu ändern. Plötzlich säumen grüne Büsche den Wegesrand, wir passieren kleine Bächlein und eine heiße Quelle lädt zum Waschen und Lagern ein. Vom nahen „Puesto“ werden wir mit frischem Brot versorgt. Juhu, der schwierigste Teil der Route ist geschafft!
Etappe 5, Termas los Banos – Fiambala
Verglichen mit den vergangenen Etappen sind die letzten zwei Tage der „Seis Miles Norte“ ein Kinderspiel. Ein 15 Kilometer langer, ruppiger Downhill bringt uns hinunter in ein tief eingeschnittenes Flusstal, welchem wir für weitere 30 Kilometer folgen. Über 90 Mal müssen wir dabei den Fluss queren! Die Schuhe bleiben nicht lange trocken, angesichts der mittlerweile hohen Temperaturen ist das jedoch eine willkommene Erfrischung. Wir futtern die letzten Vorräte, schälen uns aus unseren warmen Klamotten und gönnen uns in Palo Blanco ein üppiges Abendessen mit dem besten Bier seit langem. Nach einer letzten Zeltnacht düsen wir die letzten 60 Kilometer auf perfektem Asphalt runter nach Fiambala, dem Ziel unseres bisher größten Bikepacking-Abenteuers. Wir nehmen uns eine kleine Cabana (Hütte) am Campingplatz, plündern in einem wahren Kaufrausch die hiesigen Lebensmittelläden und heizen müde aber glücklich den Griller ein. Höchste Zeit, ein wenig zu feiern und die vergangenen Wochen Revue passieren zu lassen.
Wir blicken zurück auf rund 1.200 harte, aber grandiose Kilometer durch eine der wohl außergewöhnlichsten Landschaften Südamerikas. Jeder einzelne der gut 12.700 Gesamt-Höhenmeter war schwer verdient, aber nicht einen davon möchten wir missen. Anstatt der ursprünglich angelegten 18 Tage waren wir dank des geschlossenen Grenzübergangs im Endeffekt ganze 28 Tage unterwegs (25 Fahrtage, ein Transfer-Tag von San Pedro auf den Paso de Jama, sowie zwei Ruhetage). Wir sind zwar teilweise an unsere physischen Grenzen gestoßen, haben aber perfekt als Team funktioniert. Und nun? Jetzt ist es eindeutig an der Zeit unsere ausgezehrten Körper mit vieeeel Essen, Eiscreme und gutem Wein wieder aufzugepäppelt – und alle Annehmlichkeiten der Zivilisation zu genießen 😉