Anden Teil 4: Durchs wilde Altiplano

Eingebettet zwischen den West- und den Ost-Anden liegt eine der faszinierendsten Regionen Südamerikas, das Altiplano. Ein Großteil dieser abflusslosen, rauen Hochebene liegt im Westen Boliviens, etwa ein Drittel teilen sich Südost-Peru und Nordchile. Die nächsten Wochen sollten uns vom legendären Titicacasee hinüber in den Norden Chiles und über die größten Salzseen der Erde wieder zurück nach Bolivien bringen. Einsamkeit, Vulkane und sagenhafte Landschaften auf Seehöhen zwischen 3.600 und 4.500 Meter fordern Mensch und Material. Wie es uns auf dieser 1.200 Kilometer langen Route ergangen ist? Einfach weiterlesen!

Wären da nicht die kühlen Temperaturen und die dünne Luft, würde man sich eher radelnd an einer malerischen Küste entlang des Mittelmeers wähnen. Das tiefblaue Wasser des auf 3.800 Meter liegenden Titicacasees funkelt durch die Eukalyptusbäume, zu Sonnenuntergang verwandelt das Abendlicht die Szenerie in eine magische, fast kitschige Fototapete. Kein Wunder, dass hier auch der Geburtsort der Inkakultur liegen soll. Von Copacabana aus drehen wir einen gemütlichen Bogen rund um den südlichen Teil des Sees, statten Máximo Catani, einem der letzten noch lebenden Schilfboots-Bauer der Region einen Besuch ab und bestaunen die Steinskulpturen der Prä-Inka Ruinen von Tiahuanaco.

Südlich von Tiahuanaco sind wir nach einer haarsträubenden Etappe mit viel Staub und Lastwagen bald auf einer ruhigen Asphaltstraße unterwegs. Nach dem museumsreifen Mienenkaff Coro Coro erwartet uns eine sanft wellige, von tiefen Flusstälern und kleinen Lehmdörfern geprägte Gegend, in die sich nur selten ein Reiseradler verirrt. Nach einer wackeligen Brückenüberquerung folgen wir dem Rio Desaguadero und somit dem abfließenden Wasser des Titicacasees. Auf perfekten Lehmpisten, ohne Verkehr und „Wellblech“, gleiten wir mit leichtem Rückenwind nahezu schwerelos dahin. Die Versorgungslage ist sehr gut, freundliche Dorfbewohner erfreuen unser Gemüt und sagenhafte Ausblicke in die zerklüftete Landschaft versetzen uns ins Staunen. Kurz vor dem Nationalpark Sajama entdecken wir eine halb zerfallene, uralte Chullpa. Diese aus Lehm und Steinen gefertigten Grabstätten dienten bereits vor der Zeit der Inka Würdenträgern und Königen als letzte Ruhestätte. Aus den bröckelnden Überresten der Chullpa ragt ein Gebiss und ein Schädel, rund um den Turm liegen menschliche Knochen verstreut. Ein skurriler, aber faszinierender Anblick!

Vorbei an alten, jesuitischen Kirchen radeln wir schließlich auf einer holprigen Schotterpiste hinein in den Nationalpark Sajama. Nach einer stürmischen Nacht neben einem verfallenen Haus schlagen wir unser Zelt schließlich an einer versteckten heißen Quelle auf. Den ganzen Tag genießen wir alleine das imposante Panorama und lassen unsere müden Körper im heißen Thermalwasser köcheln. Altiplano-Wellness sozusagen! Gegen 22:00 Uhr, wir liegen schon tief eingemummt in unseren Schlafsäcken, bekommen wir Besuch von einer jungen, bolivianischen Familie. Während der etwa sechsjährige Sohn direkt neben unserem Zelt ein Kampfsport-Game auf dem Handy zockt (“wumm, zack, Round 1 – Fight …”), liegt der Rest der Bande laut plaudernd im Thermal-Pool, die überdimensionierte, mit leuchtenden LED´s ausgestattete Bluetooth-Box voll aufgedreht. Nach einer knappen Stunde ist das Schauspiel vorbei und wir können endlich die magische Stille genießen.

Die Lagunenroute befindet sich im Südwesten Boliviens und ist bei Reisenden aller Art äußerst beliebt. In dreitägigen Jeep-Touren rasen die meisten Touristen durch eine der spektakulärsten und einsamsten Gegenden der Anden. Da wir diese schwierige, aber lohnenswerte Strecke bereits vor acht Jahren geradelt sind, haben wir nach einer Alternative gesucht. Dabei ist uns die unter Bikepackern als „Ruta de las Vicunas“ bekannte Etappe durch das nordchilenische Altiplano untergekommen. „Wie die Lagunenroute, nur ohne Touristen“, so der einhellige Kommentar anderer Reiseradler. Wir waren gespannt.

Wir schreiben mittlerweile Ende September und die Nachttemperaturen sind nicht mehr ganz so bissig kalt wie noch vor ein paar Wochen. In dieser Übergangszeit zwischen Trocken – und Regenzeit können bereits die ersten Gewitter niedergehen, was uns unweit der Grenze zu einem Nachtlager in einem heruntergekommenen Arbeitercamp zwingt. Für den Rest der Strecke haben wir Glück, ganz wolkenlos ist es aber selten.

Auf knapp 300 Kilometern radeln wir auf meist einsamen Schotterpisten durch eine faszinierende Region. Zuerst durch den „Lauca Nationalpark“, der schon bald vom “Reserva Nacional Las Vicuñas“ abgelöst wird. Links von uns reihen sich schneebedeckte Vulkane aneinander, wir beobachten fasziniert die spärliche Tierwelt des Altiplanos. Vor allem erspähen wir scheue Vicuñas, die wilden Verwandten der Alpacas, aber auch putzige Viscachas, die aussehen wie ein Kaninchen mit langem Schweif. Dann und wann schwebt ein Kondor weit über unseren Häuptern durch die Höhen, Flamingos staken tollpatschig durch die salzigen Lagunen und als Highlight entdecken wir eines Morgens frische Pumaspuren unweit unseres Zeltes. Gänsehaut!

Wo es vulkanisch ist, da sind auch heiße Quellen nicht weit. Am Rande des Salar de Surire schlagen wir unser Zelt für eine Nacht an den einsam gelegenen „Termas de Polloquere“ auf. Schon von weitem kann man die Rauchschwaden dieses weitläufigen, natürlichen Pools erkennen. Ein Bad darin lockert selbst die verspanntesten Muskeln und ist in dieser abgelegenen Region ein absolut einzigartiges Erlebnis – vor allen nach Sonnenunter- und vor Sonnenaufgang! Bevor es bei Colchane wieder über die Grenze nach Bolivien geht, passieren wir noch einige weiß getünchte Jesuiten-Missionen und verbringen Anitas Geburtstag mit einer äußerst fröhlichen Gruppe Chilenen.

Salz, wohin das Auge reicht. Der Salar de Uyuni ist mit seinen 10.000 Quadratkilometern die größte Salzfläche der Welt und sogar größer als das Bundesland Kärnten. Gemeinsam mit dem weiter nördlich liegenden Salar de Coipasa bildet er die Kulisse unserer nächsten Etappe, die im Städtchen Uyuni enden wird.

Die Querung der ersteren Salzpfanne erweist sich als äußerst ruppig und feucht. Ausgangspunkt ist das kleine Dörfchen Coipasa, wo Reiseradler ein seltener und vor allem bei den Kindern willkommener Anblick sind. Etwa vier Stunden holpern wir schnurgerade über eine unregelmäßige Salzschicht, die uns mehr als jede noch so miese Waschbrettpiste durchschüttelt. Obwohl wir keinen einzigen Höhenmeter erklimmen mussten und der Wind uns ausnahmsweise gnädig war, sind wir danach ziemlich fertig. Einige ausgebrannte Autowracks säumen das Ufer. Schmuggler holen die Gefährte illegal über die Grenze. Werden sie von Militärs oder der Polizei überrascht, fackeln sie diese einfach ab.

Die Durchquerung der Landmasse zwischen den Salzseen entpuppt sich als landschaftlich wunderschön, aber teilweise unfahrbar – zumindest auf der von uns gewählten, direkten Route. Der Weg wurde an manchen Stellen von Sturzbächen davongewaschen, nicht nur einmal müssen wir unsere Räder durch tiefe Gräben schleppen.

Vom Örtchen Tahua aus entern wir schließlich den legendären Salar de Uyuni. Diesmal ist die Salzfläche sehr gut zu befahren. Auf der von zahlreichen Fahrzeugen genutzten Spur düsen wir mit für unsere Verhältnisse rasanten 20 km/h zur 40 Kilometer entfernten „Isla Incahuasi“, einer aus versteinerten Korallen bestehenden Insel inmitten des ewigen Salzes. Während sich am nordwestlichen Ufer zahlreiche Touristen die Klinke in die Hand des kleinen Touristenzentrums geben und den nahen Aussichtspunkt bevölkern, finden wir auf der windabgewandten Ostseite eine kleine Viehpferch, die uns als Nachmittags- und Nachtlager dienen soll. Die Rechnung geht auf. Nur selten spaziert der eine oder andere Traveller an unserer Behausung vorbei, wir haben die von Jahrhunderte alten Säulenkakteen bewachsene Ostflanke der Insel fast für uns alleine. Richtig magisch wird es zur Abenddämmerung, die die Landschaft in ein unbeschreibliches Bild verwandelt. Die gigantischen Kakteen scheinen zu glühen, auf der unendlichen Salzfläche zeichnen sich kontrastreich die regelmäßigen Hexagon-Muster ab. Nach einem ebenso grandiosen Sonnenaufgang flitzen wir mit Rückenwind die 70 Kilometer bis ans Ostufer, von wo es nicht mehr weit nach Uyuni ist.

Noch vor wenigen Jahren haben sich hier in der Einsamkeit des bolivianischen Hochlands Fuchs und Hase gute Nacht gesagt. Heute ist alles anders. Die Stadt Uyuni hat seit unserem letzten Besuch vor acht Jahren ein rasantes Tempo an den Tag gelegt – leider nicht zu ihrem Vorteil. Der Tourismus boomt, jeder will einen Anteil am Kuchen haben. Die Hotels sind hässlich, die Preise für Bolivien viel zu hoch und abseits des Zentrums leben die Menschen in halbfertig wirkenden, unverputzten Ziegelhäusern. Zum Fotografieren gibt es unseres Erachtens nach nicht viel, außer dem „Cementerio de los trenes“, einem Zugfriedhof am Rande der Stadt. Hier wurden über die Jahre hinweg alte, ausrangierte Züge abgestellt, die nun eine perfekte Kulisse für abgefahrene Fotos ergeben.

Das Leben schreibt oft seine eigene Geschichte, nur selten nimmt es dabei Rücksicht auf deine Pläne. In Uyuni erfahren wir aus heiterem Himmel, dass wir zuhause gebraucht werden. Ein gesundheitlicher Notfall im engsten Familienkreis. Geliebte Menschen sind wichtiger als jedes Abenteuer, deshalb brechen wir die Tour einen knappen Monat früher als geplant ab und treten die Heimreise an. Mit dem Nachtbus fahren wir nach La Paz, von wo aus wir alles organisieren. Die Umbuchung klappt, bis zu unserem Rückflug aus Lima bleiben uns aber noch ein paar Tage. Diese wollen wir nicht wartend in einer anonymen Großstadt verbringen.

Östlich der hektischen Stadt führt eine Asphaltstraße hoch auf den 4.600 Meter hohen Pass „La Cumbre“. Von dort fallen die Anden steil Richtung Osten hin ab, bis hinunter in die Yungas, dem subtropischen Teil des Amazonas-Regenwaldes. Hier beginnt eine der bekanntesten Straßen des Landes, die „Ruta de la Muerte“, die Todesstraße. Bevor 2006 eine mehrspurige Umgehungsstraße fertiggestellt wurde, galt die einspurige Schotterpiste als die gefährlichste Straße der Welt. Sie wurde in den 1930ern haarscharf in die oft mehrere hundert Meter senkrecht abfallenden Hänge gebaut und forderte pro Jahr bis zu 300 Todesopfer. Heute nimmt kaum noch ein mehrspuriges Fahrzeug das Risiko auf sich, dafür hat die hiesige Tourismusindustrie die spektakuläre Strecke für sich entdeckt. Zahlreiche Agenturen in La Paz haben sich auf die Befahrung der Straße mit dem Mountainbike spezialisiert, was bei den meist jungen Travellern total angesagt ist und dann und wann seine Opfer fordert. In der Hauptsaison wagen bis zu 100 Biker pro Tag diesen waghalsigen Ritt.  Wenn man aber erst am frühen Nachmittag die rund 70 Kilometer und 3.000 Höhenmeter lange Abfahrt antritt, ist man mutterseelenalleine unterwegs. Und zugegeben: Der Mythos ist wieder einmal größer, als die Realität. Den gesamten Andenhauptkamm entlang gibt es zahlreiche Straßen mit einem ähnlich exponierten Verlauf, die es aber mangels Verkehr und somit viel weniger Unfällen nie auf den Status der „Death Road“ gebracht haben. Trotzdem ist und bleibt die Strecke ein abwechslungsreicher und spektakulärer Ritt durch mehrere Klimazonen – von der kargen Hochgebirgspuna bis hinunter in den dampfenden, üppig grünen Nebelwald der Yungas.

Nahe des wie ein Adlerhorst an einem Hang klebenden Städtchens Coroico quartieren wir uns für zwei Nächte in einer Ecolodge ein. Wir wohnen in einem kleinen Panorama-Bungalow mit atemberaubenden Ausblicken, genießen die milden Temperaturen und die dichte, subtropische Vegetation. Energie tanken für die lange Rückreise …

Ein letzter Tag noch in La Paz, bevor uns eine 30-stündige Busfahrt und der anschließende, 16-stündige Flug wieder nach Hause katapultieren wird. Die in einem weiten Talkessel liegende Stadt ist nicht nur der höchstgelegene Regierungssitz, sie besitzt auch das dichteste städtische Seilbahnnetz der Welt. Von der österreichischen Firma Doppelmayr gebaut, befördert es täglich rund 100.000 Menschen zwischen den armen Stadtteilen El Altos und dem tiefer liegenden Zentrum. Wir unternehmen natürlich eine Rundfahrt und bestaunen die verschiedenen Stadtteile aus der Vogelperspektive.

Am Abend feiern wir mit einem bunten Haufen Reiseradler das Ende unseres Anden-Trips. Wir wohnen in der „Casa de Ciclistas“ von Christian. Christian ist ein deutschstämmiger Bolivianer und selbst leidenschaftlicher Radfahrer. Er stellt seine Wohnung ganz uneigennützig anderen Reiseradlern zur Verfügung, die durch „seine Stadt“ kommen. Diese „Casas“ sind in Lateinamerika weit verbreitet und eine willkommene Abwechslung zu Zelt und miefigen Herbergen. Es herrscht eine familiäre Atmosphäre, man kocht und isst gemeinsam und vernichtet die eine oder andere Flasche Wein. Das hilft, unsere Sorgen für einige Stunden zu vertreiben.

Mittlerweile sind wir wieder zurück im herbstlichen Österreich. Die „Landung“ war diesmal nicht so sanft wie erhofft, mit voller Wucht zurück im „ganz normalen Wahnsinn“. Aber wie bereits erwähnt: Geliebte Menschen sind wichtiger als jedes Abenteuer!

Aber eines ist klar: Im sprichwörtlichen Sinne haben wir ein Buch zugeklappt, welches noch viele ungelesene Seiten für uns parat hält. Durch den spontanen Abbruch scheint die Dicke dieses Schmökers weiter angewachsen zu sein, schon im Flieger schmieden wir weitere Ideen für die Zukunft. Sie haben mit den Anden, dem Dschungel und einsamen Pfaden in einer atemberaubenden Natur zu tun. Mit dem Rad? Logisch! Aber nicht nur. Schaun wir mal, was die Zukunft bringt … In diesem Bezug sei abschließend der französische Schriftsteller Victor Hugo zitiert:

Die Zukunft hat viele Namen.
Für Schwache ist sie das Unerreichbare, für die Furchtsamen das Unbekannte,
für die Mutigen die Chance.

In diesem Sinne: Lebt eure Träume und passt gut auf euch auf!

Herzlichst,
Nandita