Kurz vor Huamantanga werden wir von Señor Hilario auf eine Feier eingeladen. Das Haus, besser gesagt das steil abfallende Gelände, ist voller Leute. Es wird gekocht, gerührt, Hühner zerlegt … Doña Alexandra hat in diesem alten Lehmhaus gewohnt und ist vorgestern mit 98 Jahren verstorben, die gesamte Verwandtschaft ist von weit und breit angereist. Die Zeremonie für die Bestattung wird vorbereitet. Am Abend sollen an die hundert Leute kommen, um die ganze Nacht für Doña Alexandra, „La Abuelita“, zu beten und zu singen.
Wir stellen unser Zelt auf und gesellen uns zur Familie. Während Anita den Damen beim Kochen hilft und wie eine Hexe mit einem Eukalyptus-Stock im riesigen Kochtopf umrührt, trinke ich mit den Herren Inca-Cola mit Rum – ein feuriges Gemisch!
Als es dämmrig wird, trudeln langsam die Gäste ein und begeben sich in das untere Gebäude, in dem Doña Alexandras Sarg aufgebahrt wurde. Kerzen flackern und große LED-Lichter erhellen die alten Lehmwände. Die Leute nehmen auf alten Holzbalken an den Wänden Platz. Hilarios Bruder geht mit einem großen Sack Kokablätter durch die Runde, sie sollen die Müdigkeit vertreiben. Es wird Quechua geplaudert, Schnaps getrunken, auf den Boden gespuckt, gelacht und getratscht.
Spät abends liegen wir müde in unserem Zelt. Uns gehen viele Gedanken durch den Kopf, während in der Ferne die Gebete und Gesänge leise erklingen. Es dauert eine Weile, bis uns der Schlaf einholt … Das Leben schreibt oft eigenartige Geschichten. Vor drei Jahren haben wir unsere Reise frühzeitig abgebrochen, weil es Anitas Mama sehr schlecht ging. Ein halbes Jahr hatten wir dann noch gemeinsam. Und jetzt, keine zwei Wochen nach unserer Rückkehr nach Peru, werden wir auf ein Begräbnis eingeladen. Vielleicht ist es sin Kreis, der sich damit schließt?
Um uns auf die anspruchsvollen Routen der kommenden Wochen vorzubereiten, wollen wir die legendäre Cordillera Blanca umrunden. Als Startpunkt haben wir uns die Stadt Huaraz ausgesucht. Obwohl wir uns hier bereits auf über 3.000 Meter Seehöhe befinden, starren wir mit offenen Mündern auf die umliegenden, schneebedeckten Bergriesen, die uns in einem weiten Bogen einschließen. 17 Berge hier sind über 6.000 Meter hoch, es gibt über 500 Bergseen zu bestaunen und insgesamt 422 Gletscher sorgen für ein atemberaubendes Panorama.
Die ersten beiden Tage fahren wir gemächlich auf Asphalt über einen 4.500 Meter hohen Pass nach Chavin, danach geht es auf teils schlechten Schotterpisten auf der Ostseite der Cordillere durch den „Callejon de Conchucos“. Die Gegend ist landwirtschaftlich geprägt, dann und wann passieren wir beschauliche Städtchen und kleine Dörfer, und mit der 4.360m hohen „Abra Huachucocha“ steht der erste Schotter-Pass auf dem Programm. Kaum zu glauben, dass hier in dieser Region bis in die 1990er die kommunistische Terror-Organisation „Sendero Luminoso“ sein Unwesen trieb und abertausende, vorwiegend indigene Menschen auf dem Gewissen hat …
Wir erreichen das Städtchen Acochaca und entschließen angesichts der majestätischen Schneeberge, die hinter der fahnengeschmückten Kirche thronen, von unserem ursprünglichen Umrundungs-Plan abzuweichen. Anstatt die Reise ENTLANG der Berge fortzusetzen, wollen wir lieber MITTENDURCH. Wir drehen unsere Lenker nach links und nehmen zuerst den 4.070m hohen Pupash-Pass in Angriff, bevor es hinter Yanama so richtig zur Sache geht. Eine immer schlechter werdende Schotterpiste führt uns zuerst stetig steigend hinein in ein grünes Tal. Unser Nachtlager teilen wir uns mit Myriaden beißwütigen Kriebelmücken. Die größte Herausforderung liegt aber noch vor uns, die „Portachuelo de Llanganuco“ mit über 4.700m.
Der Tag beginnt mit teils sehr steilen, grobsteinigen Passagen. Mitten in einer dieser Anstiege verliert Anita leider die Kontrolle über ihr Vorderrad und stürzt unglücklich auf ihr rechtes Handgelenk. Da sie mit ihrer schmerzenden Hand den Lenker nicht mehr ordentlich greifen kann, schiebt sie ihr Fahrrad großteils die letzten 700 Höhenmeter hinauf bis an die Passhöhe. Die Ausblicke hier oben sind atemberaubend. Schier zum Greifen nah liegen die mächtigen Schneeriesen vor uns. Das entschädigt für (fast) alle Mühen und Qualen. Aber: Am meisten Angst haben wir vor der bevorstehenden Abfahrt, die uns noch weitere 16 Kilometer und 900 Tiefenmeter auf miesester Piste fordern wird. Wie durch ein Wunder hat Anita beim Runterfahren kaum Schmerzen und wir schrauben uns in endlosen Serpentinen langsam, aber stetig auf „angenehmere“ Höhen von knapp 4.000 Meter hinunter. Im Abendlicht schlagen wir unser Zelt am Fuße der Llanganuco-Lagunen auf. Erst als wir im Zelt liegen, bemerken wir wie müde wir eigentlich sind …
Tja, das Leben schreibt manchmal eigenartige Geschichten – aber es ist auch immer offen für Wunder! Denn es stellt sich heraus, dass unsere Nachbarin am Lagerplatz eine Unfallchirurgin aus Innsbruck ist. Gemeinsam mit ihrem Partner Klemens ist Birgit seit gut 2 ½ Jahren mit einem Geländewagen in Südamerika unterwegs. Als sie hört dass Anita gestürzt ist, weiten sich ihre Augen und sie greift sofort nach ihrem Handgelenk, tastet alles ab, schaut sich die Schwellung und die Färbung an. „Geh mal lieber zum Röntgen nach Huaraz“, meint sie und verpasst Anita eine Schiene zum Runterfahren …
Glück im Unglück. Es ist zwar ein kleiner Bruch, den nicht einmal die lokalen Ärzte gesehen haben. Aber dank unserer Freundin wissen wir jetzt, was zu tun ist. Vor allem einmal vom Gas runter 🙂 Danke liebe Birgit, du bist ein Segen!